Das stumme H kann mich mal 

Es ist ein sonniger Montagmorgen im Jahre 2007.
Ich bin in der zweiten klasse und knirsche beim Gedanken gleich wieder aufstehen zu müssen mit den Zähnen.
Es ist nun das zehnte Mal, dass ich innerhalb der ersten drei Minuten des Laufdiktats meinen Platz verlassen muss und jedes Mal zieht mir der Plastikstuhl buchstäblich die verschwitzte Haut ab. Ich sehe nach Links, zu meiner besten Freundin. Sie ist bisher erst einmal aufgestanden, hat sich das Geschriebene angesehen und ist nun dabei den Text genauso Wort für Wort auf ihr Blatt zu bringen.
Christin ist schon mit der Hälfte fertig.
Ich habe bisher vier Wörter.
Ich stehe auf, ignoriere den Schmerz meiner Haut und gehe schnellen Schrittes auf das Pult meiner Lehrerin zu.
Der Schatz des Piraten ist in einer Truhe, die… Truhe ist jetzt dran. Ich lese den Satz gar nicht erst zu ende, denn ich weiß, dass mir nur dieses eine Wort alles abverlangen wird.
Panisch blicke ich zu meiner Lehrerin, doch sie sitzt teilnahmslos auf ihrem Stuhl und interessiert sich lediglich für Peter und Matze, die gerade versuchen Lösungen auszutauschen.
Wenn fünf Buchstaben erstmal zu viel sind, merke ich mir nur drei, dann habe ich mehr als die Hälfte und kann mir dann beim nächsten Mal vielleicht schon den Anfangsbuchstaben des nächsten Worts merken.

Julie Pelzel
Während ich zu meinem Platz zurück sprinte, wiederhole ich immer wieder die Buchstaben
T-R-U, T-R-U, T-R-U und bin mehr als erleichtert, als ich sie endlich aufschreiben kann.
Ich will gerade wieder los gehen, da erschallt die Eieruhr und meine Lehrerin verkündet: „Das Diktat ist nun vorbei sei.“ Bitte legt alle eure Stifte weg, Lars wird die Blätter einsammeln“.
Ich habe damals eine 5- bekommen, aber das ist schon Ok. Ich habe schließlich viel weniger als die meisten anderen geschafft und bin deswegen schlechter zu bewerten, auch wenn ich mich mit meinen elf Gängen mehr anstrengen musste als meine beste Freundin mit drei.
Während ich mich in den ersten Diktaten noch bemüht habe, wurden sie mir mit der Zeit immer gleichgültiger, denn egal wie sehr ich mich damals bemüht habe, wie viel Zeit und Konzentration ich für die einzelnen Wörter aufgebracht habe, das Ergebnis blieb das Gleiche.
Das einzig Gute an der Sache war, dass nur ich und meine Lehrerin von meinem Versagen wussten und es meine Mitschüler nicht mitbekommen haben.
Ganz anders als beim lauten Vorlesen. Ich stolperte über Buchstaben, ersetzte Wörter mit anderen und versaute die Betonung. Alle bekamen es mit und alle fanden es witzig. Ich fand es unfair. Wieso fielen diese Aufgaben allen so leicht, obwohl sie viel weniger Arbeit in sie investierten als ich? Wie konnte es sein, dass Lars, der nie übte eine 1 bekam und ich die nach der Schule drei Stunden am Schreibtisch saß und zwischendurch immer wieder um das Sofa rennen musste, weil mein ganzer Körper kribbelte, immer wieder eine 5 bekam?
Heute kenne ich die Antwort.
Ich bin Legasthenikern. Für Alle, denen das kein Begriff ist:. im Grunde bin ich nicht dazu in der Lage den Namen meiner eigenen Einschränkung auszuschreiben.
Aber mal ernsthaft – warum wählt man für eine Beeinträchtigung des korrekten Schreibens den wohl kompliziertesten Namen überhaupt? Fällt das nicht fast schon unter Mobbing?
Obwohl Lese-/Rechtschreibschwächen nach Angaben des DVLG (Legasthenie Verbandes) mit 10% der Gesamtbevölkerung in Deutschland ziemlich verbreitet sind, herrscht immer noch ein allgemeines Unverständnis.
Viel zu oft kommt es vor, dass man allein auf seine Schwäche reduziert wird und sich dadurch immer weiter auch selbst auf seine Schwächen begrenzt.
Meine Affinität zum Schreiben und Lesen steht seit jeher im Widerspruch mit meiner Einschränkung, was das Ausleben meiner Interessen für mich schwierig gestaltet.
Immer wieder wird mir die Tragweite meiner Schwäche durch dicke rote Linien in diversen Schreibprogrammen allzu deutlich gemacht.
Doch auch korrigierte Texte, ohne jedwede Fehler, geben den Leser:innen Anlass, mich auf meine Legasthenie zu reduzieren.
So heißt es: „Obwohl sie eine Lese-/Rechtschreibschwäche hat, schreibt Julie gute Texte“ oder „Dass du Journalismus studierst, hätte ich bei deiner Legasthenie ja nie gedacht“.
Legasthenie findet in deinem Kopf statt und ist somit ein Teil von dir.
Wenn ich mal einer Person von meiner Einschränkung erzählen muss, fühlt es sich schnell so an, als würde ich etwas Verbotenes aussprechen, etwas was mich verletzlich macht und ein wenig zu intim ist.
Als wäre es mein persönlicher Fetisch die deutsche Rechtschreibung zu verschandeln.
Aber warum fühle ich so?
Ich fühle so, weil mir von klein auf beigebracht wurde, dass meine Art Wörter auszuschreiben etwas Peinliches ist und um jeden Preis geheim gehalten werden muss.
Was, wie ich heute für mich heraus gefunden habe, falsch ist.
Scham hat noch nie progressive Entwicklungen in die Wege geleitet und wird es auch zukünftig nicht tun. Demnach ist es umso wichtiger über seine Schwächen und die Gefühle, die mit diesen einhergehen, zu sprechen.
Ich habe mich schon in der zweiten Klasse durch das häufige Auf- und wieder Hinsetzen bestraft gefühlt.
Der Schmerz ist heute immer noch da, nur das er anders ausgelöst wird.
Wenn ich eine geschriebene Klausur wieder erhalte und als Ursprungsnote eine 2 markiert ist, allerdings der Zusatz der herabnotug wegen einer schlechten Rechtschreibung auf eine 3 vermerkt ist, kann ich ihn fühlen.
Es ist frustrierend, da man sich auf einer Ebene angegriffen fühlt, auf der man sich nicht zur Wehr setzen kann.
Es ist frustrierend, weil man mit der Einschränkung kaum die Möglichkeit besitzt, sich zu verbessern.
Es ist frustrierend, weil es sich so anfühlt, als ob meine Schwächen, immer wieder meine Stärken überschatten und nur noch das gesehen wird, für das weder ich noch so viele andere Betroffene etwas können.
Wie viel Talent ist wohl schon vergeudet worden, nur weil jemand es für nötig gehalten hat, die äußeren Rahmenbedingungen über den Inhalt zu stellen?
Wie viele kluge Gedanken sind wohl nie verbreitet worden, nur weil der/die Prüfer:in nach dem dritten Fehler die Hausarbeit abgetan hat?
Ist es das wirklich wert?