Buchrezension: Die Mitternachtsbibliothek von Matt Haig 

Nora Seeds Herz schlägt gemeinsam mit dem Zeiger der Uhr das letzte Mal als dieser auf die Zwölf rückt und einen neuen Tag einleitet. Einen Tag, den sie nicht mehr erleben wird.
Sich das Leben zu nehmen war für die junge Frau ein Leichtes. Von niemanden gebraucht, voller Bereuen und ohne eine Aufgabe im Leben, sah sie in genau diesem keinen weiteren Sinn mehr, als es zu beenden.
Doch die Überdosis Antidepressiva bringt sie nicht ins ersehnte Jenseits, sondern in die Mitternachtsbibliothek.
Plötzlich findet sich Nora mit lauter Variationen wie ihr Leben hätte ablaufen können konfrontiert, die in den endlos vielen Büchern niedergeschrieben sind.
Mittelpunkt der Bibliothek ist die Bibliothekarin Mrs. Elm, die Nora als spirituelle Begleiterin durch ihre Parallelwelten führt.

Buch die Mitternachtsbibliothek

Gibt es das perfekte Leben?

Matt Haigs, der Autor des Romans, versucht dieser Frage gemeinsam mit der Protagonistin und den Leser:innen nachzugehen.
Auf der Suche nach dem ultimativen Leben, geht Nora verschiedenen Entscheidungen nach, die sie in ihrem Ursprungsleben anders getroffen hat. Was wäre, wenn sie das Schwimmen nicht aufgegeben und es zu den Olympischen Spielen geschafft hätte?
Was wäre, wenn sie die Band aus der Jugend zum großen Erfolg geführt hätte?
Wie würde ihr Leben aussehen, wenn sie den konventionellen Weg der Familiengründung eingeschlagen hätte?
Die Leben, welche sie auf der anderen Seite der Buchseiten erwarten, erfüllen mal mehr aber auch mal weniger ihre Erwartungen.
So stellt sich der lang gehegte Kindheitstraum, doch als eine kindliche Wunschvorstellung heraus und das Leben als berühmte Sängerin wiederum als sehr eintönig dar. 

Obwohl sich die Parallelwelten, in die Nora eintaucht in ihrem Kern grundlegend unterscheiden, gibt es bestimmte Muster, die sich durch sie hindurch ziehen.
So entdeck die Protagonistin, in Leben, in denen sie eigentlich hätte glücklich sein sollte trotzdem Narben auf ihren Armen und findet in Existenzen, in denen sie als gestandene Frau erscheint, doch immer wieder das vertraute Gewicht der Antidepressiva in ihrer Tasche vor.
In ihrer Depression gibt sich die junge Frau immer wieder die Schuld für einschneidende negative Ereignisse.
Der Tod ihrer Katze stellt dabei in ihrem Buch des Bereuens ganz oben.
Doch in der Mitternachtsbibliothek, der Schnittstelle aller Parallelwelten, wird ihr bewusst, das unsere Leben zwar mit denen anderer verknüpft sind, wir allerdings keine Kontrolle über die Leben anderer haben. So war das Ende des Lebens ihres Katers auf genau diesen Tag begrenzt und hätte sich durch keine Entscheidung, die Nora hätte treffen können, verlängern lassen.
Damit erscheinen ihr Stück für Stück Entscheidungen, welche sie im Nachhinein gerne anders getroffen hätte, plötzlich als die richtigen und die Seiten im Buch des Bedauerns leeren sich. 

Mit der Zeit wird sie den Leben, in die sie hineingeworfen wird, überdrüssig und es entwickelt sich in ihr der verzehrende Wunsch danach in einem ankommen zu können.
Aber die Zeiger stehen nicht ewig eingefroren und sie muss sich entscheiden, bevor das Jenseits das Ende ihrer Ursprungs Existenz schreibt.

Welche Eindrücke habe ich als Leserin gewonnen und was nehme ich mit?

Wir alle haben unsere vertrauten “Was wäre, wenn” Momente. Was wäre, wenn ich das Jobangebot angenommen hätte? Was wenn ich da gewesen wäre? Die Mitternachtsbibliothek ist der Ort, der die Antwort auf all diese Fragen vereint.
Aber verschaffen uns diese Antworten die ersehnte Befriedigung? 

Der Roman von Matt Haigs beschäftigt sich mit vielen philosophischen Fragen, wirft allerdings auch so einige neue auf. Die Geschichte von Nora bewegt jeden/jede der sie liest, sich mit seiner eigenen auseinander zu setzen.
Wir neigen dazu zu viele Ansprüche an uns selbst zu stellen und uns im Nachhinein trotzdem zu fragen, was wir hätten anders, was wir hätten besser machen können.
Manchmal glauben wir Dinge verhindern zu können, die gar nicht in unser Macht stehen, so wie Nora dachte sie hätte den Tod ihres Haustiers in irgendeiner Weise verhindern können, was sie einfach nicht konnte.

Es gibt Kausalitäten, die wir zwar wahrnehmen können, allerdings nicht beeinflussen können, andererseits auch Kettenreaktionen, die wir in die Wege geleitet haben, die uns gar nicht bewusst sind und erst mit der Zeit bewusst werden.So ist es uns ist zum Teil gar nicht klar, was wir hervorgebracht und erreicht haben, bis es uns von einer äußeren Stimme mitgeteilt wird, die manchmal wie in Noras Fall auch aus dem tiefsten inneren seiner Selbst kommen kann.